Frankfurter Allgemeine Zeitung
vom 11. März 1997
Von der Wachskerze zur Glühbirne
Verschlafen wir die multimediale Zukunft? /
Von Alfons Rissberger
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leistungsfähiges Notebook inklusive aller
Komponenten wie Digital Video Disc (DVD) mit bis zu 18
Giga-Byte, das entspricht neun Millionen
Schreibmaschinenseiten auf einer Compact Disc, inklusive
Netzwerkanschluß für 998 Mark in den Taschen unserer
Grundschüler Alltag sein.
4. Der Einsatz von Multimedia führt nicht
nur zu einer "Rationalisierung in allen Bereichen
geistiger Arbeit", sondern auch zu neuen Sachzwängen bei
der internationalen Arbeitsteilung. Millionen klassische
Arbeitsplätze werden bei uns entfallen. Diese Entwicklung ist
nicht aufhaltbar. In einer einzigen Stadt Indiens, Bagalore,
haben 1995 bereits 34 000 akademisch ausgebildete
Software-Experten für 400 Mark Lohnkosten je Monat
Dienstleistung für Unternehmen in aller Weit – auch für
deutsche – erbracht. Wenn wir weiter bedenken, da8 wir heute
zu den 20 Prozent der Bevölkerung dieser Erde gehören, die
80 Prozent aller Weltressourcen verbrauchen, müssen wir
endlich begreifen, daß uns die größte Umverteilung,
verbunden mit den größten Einschnitten aller Zeiten,
bevorsteht, wenn man von Kriegen und Naturkatastrophen
absieht.
5. Durch Multimedia ergeben sich direkte und
indirekte Wettbewerbsvorteile: Direkte, wenn Unternehmen
unmittelbar ein verbessertes Preis-Leistungs-Verhältnis ihrer
Produkte und Dienstleistungen erzielen. Indirekte durch
Einsparungen bei konstanter oder gar höherer Arbeitsleistung
beziehungsweise Qualität im Bildungswesen und in den
Verwaltungen. Im Preis jedes einzelnen deutschen
HighTech-Produktes – zum Beispiel unserer Autoindustrie –
sind auch anteilig die Aufwendungen für den Sachbearbeiter
des Landratsamtes, den Professor der Universität oder den
Referenten des Ministeriums enthalten.
6. Multimedia beeinflußt alle Faktoren
geistiger Arbeit: Rahmenbedingungen, Gestaltungs-, Handlungs-
und Dispositionsspielräume, Arbeitsinhalte und Organisation,
Belastung und Anspruchsniveau, Kommunikations- und
Kooperationsbeziehungen, Qualifikation (Aus- und Fortbildung),
Organisationsentwicklung...
Ich räume ein: Mit den Erfahrungen der
Vergangenheit sind diese Realitäten nicht (be)greifbar. Und
mit den Methoden der Vergangenheit sind diese bevorstehenden
Veränderungen und Probleme nicht mehr lösbar. Ich bin
überzeugt, daß wir unsere Ansprüche senken und unsere
Verhaltensweisen fundamental ändern müssen. Der
amerikanische Unternehmensberater William Bridges bringt es
auf den Punkt: "Unseren Nachfahren werden unsere heutigen
Kämpfe um Arbeitsplätze vorkommen wie der Kampf um
Liegestühle auf der Titanic." Und Bundespräsident
Herzog sagt: "Die Lösung tut weh, nicht nur den
Arbeitnehmern." Unsere Verantwortung ist, mit Kenntnissen
statt Vermutungen jetzt zu entscheiden, wie wir mit begrenzten
finanziellen Mitteln ausreichende und zukunftsfähige
Infrastrukturen für diese Entwicklung in allen Bereichen
unserer Gesellschaft schaffen.
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Die meisten Politiker und viele
Spitzenmanager in Deutschland haben immer noch nicht
realisiert, daß eine unaufhaltbare und außergewöhnlich
schnell verlaufende Multimediarevolution begonnen hat, die die
wesentlichen Erfolgs- und Wettbewerbsfaktoren aller Regionen
unserer Welt fundamental verändert. Wir müssen ernst(er)
nehmen, daß in den nächsten Jahren alle
"Humankapital-Karten" grundlegend neu gemischt und
geordnet werden und dabei wesentliche der bisherigen Vorteile
der Industriestaaten ihren Wert verlieren. Nelson Mandela hat
das erkannt, wenn er den gleichberechtigten Zugang der
Entwicklungsländer zu den Datenautobahnen fordert. Er hat
begriffen, daß man viele Stufen des Wegs der
"entwickelten" Länder mit Multimedia einfach
überspringen kann. Zum Einsatz von Notebooks, optischen
Speichersystemen und digitalen Netzen braucht man nämlich
viele der klassischen Infrastrukturen nicht, zumindest nicht
im bisherigen Umfang; das gilt für Großkraftwerke genauso
wie für Autobahnen.
Dies- und jenseits des Teiches
Eine Umfrage hat im letzten Jahr gezeigt,
daß 70 Prozent der Führungskräfte in den Vereinigten
Staaten überzeugt sind, daß sich Telearbeit in den
Unternehmen durchsetzen wird. 70 Prozent der deutschen Manager
glaubten aber an unveränderte Arbeitsbedingungen. Viele der
in Deutschland immer wieder zu hörenden Argumente gegen die
vielfältigen Formen des Multimediaeinsatzes – zum Beispiel
gegen Telearbeit – sind von wenig Sachkunde und insbesondere
dem Ignorieren weltweit vorliegender einschlägiger
Erfahrungen gekennzeichnet. Es ist für unsere Zukunft
gefährlich, wenn durch oft unausgesprochene Angst vieler
Entscheidungsträger vor den unbekannten Realitäten dieser
Entwicklung, vor den notwendigen massiven Veränderungen in
unserer Gesellschaft und vor dem Erdbeben im Machtgefüge
unseres Landes die erforderliche "kritische Masse"
für den notwendigen Lern- und Umstellungsprozeß nicht
hergestellt wird.
An zu vielen Stellen in unserem Land –
insbesondere im Verwaltungs- und Bildungsbereich – wird
immer noch umfassend die Weiterentwicklung der Wachskerze
betrieben, statt auf den Einsatz von elektrischem Licht in
Form von Multimedia zu setzen. So ist es heute nicht mehr
verantwortbar, die notwendige Verwaltungsreform losgelöst von
den Möglichkeiten eines zeitgemäßen Multimediaeinsatzes zu
diskutieren. Multimedia ermöglicht so effiziente wie
bürgernahe Verwaltungsdienstleistung. Ein Mitarbeiter kann an
seinem multifunktionalen Arbeitsplatz ohne die bisherige
Spezialisierung verschiedene Bereiche integriert abdecken, und
er kann besser und vielfältiger kommunizieren.
Das ermöglicht nicht nur kleine
Verwaltungsstandorte, sondern sogar eine
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"mobile Verwaltung", zum Beispiel
mit einem Van vor Ort. Und: Telearbeit ermöglicht
fürMitarbeiter und Kunden die Einsparung vieler Fahrten zu
zentralen Verwaltungsstellen und so die Reduzierung von
Verkehrsspitzen. Erfahrene Nutzer solcher Systeme anerkennen
darüber hinaus eine erhöhte Arbeitsplatzqualität und mehr
Spaß an der Arbeit.
"Wachskerzen" im Bildungsbereich
sind die wie eh und je abgehaltenen Vorlesungen an unseren
Hochschulen, genauso wie die nicht mehr zeitgemäße
Diskussion um Schularten im allgemeinbildenden Bereich.
Anspruchsvolle interaktive Bildungssoftware ermöglicht die
individuelle Förderung des Lernenden beim kognitiven Lernen
und sichert eine bisher in der Schulpraxis nicht realisierbare
pädagogische Qualität. Der Lehrer hat endlich wieder Zeit
für bisher vernachlässigte pädagogische Aufgaben, kleinste
Schulstandorte mit mehreren Jahrgangsstufen in einer Klasse
sind wieder möglich. In der Konsequenz muß also weder die
Grundschülerin um 6 Uhr aus dem Bett, um nach einer Stunde
Schulbusfahrt pünktlich in ihrem Klassenraum zu sein, noch
müssen Hunderte Studenten zur gleichen Minute einen
Vorlesungsort aufsuchen. Sie alle können frei von Zeit und
Ort das beste Know-how – auch des Professors aus Neuseeland
– in der Methode ihrer Wahl, mit der dem einzelnen
angemessenen Geschwindigkeit multimedial "abholen".
Damit ergeben sich auch für die Finanzierung unseres
Bildungswesens völlig neue Perspektiven. Die hohe Zahl der
Studenten ist so kurzfristig ein Problem der Vergangenheit.
Wir brauchen dazu nur den Mut, das "beste"
Hochschullehrer-Know-how multimedial zusammenzuführen und
"unters Volk zu bringen".
Sehen wir den multimedialen Realitäten in
die Augen:
1. Multimedia kann Vorgedachtes/-gemachtes,
das heißt Know-how, nachvollziehen, und zwar interaktiv und
dynamisch (das kann kein Buch und kein Film), frei von Ort und
Zeit, beliebig oft und parallel, ohne Ermüdung, ohne
Verschleiß (der Elektronik und der Netze), ohne Verfälschung
beliebig oft reproduzierbar, ohne "Vergessen" und
immer "mit Geduld". Und: Multimedia ist zugleich ein
universelles Kommunikationsmedium.
2. Die weltweit vorliegenden Erfahrungen
belegen: Multimediale Arbeit ist besonders menschengerecht,
ökologisch zukunftsfähig, effizient, ohne die meisten der
klassischen Infrastrukturen nutzbar, und sie führt zu mehr
Spaß an der Arbeit.
3. Die Entwicklung aller
Multimediakomponenten (Notebooks, optische Speicher, digitale
Netze) wird auf nicht absehbare Zeit von einer
"unglaublichen" Steigerung des
Preis-Leistungs-Verhältnisses bestimmt. In acht Jahren wird
ein
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